Reformationsfest: Geburtstagsfeier einer Entrümpelung

Predigt zum 1. November 2020 von Pfarrer i.R. Wolfgang Fingerle

Liebe aufgeweckte Gemeinde,

heute feiern wir den Geburtstag einer Entrümpelung. Vor 503 Jahren ging Martin Luther sozusagen in den Keller, ans Fundament der Kirche und hat entdeckt: Da liegt ein vergessener Schatz. Aber als er ihn ausgrub, sagten sie zu ihm: "Störe nicht unsere schönen Pläne. Du siehst doch: eine herrliche Architektur, die Leute staunen noch hunderte Jahre später darüber und wir feiern schöne Gottesdienste."

Aber Martin Luther antwortete: "Schaut doch mal in die Augen der Menschen. Die kommen voller Angst und glauben doch tatsächlich, dass sie in der Hölle schmoren müssen. Die laufen rum wie an Halloween die Gruselgeister. Das kann doch nicht euer Ernst sein. Schaut, ich hab‘ in der Bibel entdeckt, dass wir nicht mehr bestraft werden für unser Leben, sondern dass Jesus selber diese Strafe auf sich genommen hat. Wir dürfen uns einfach an ihn dranhängen und dann geht es ab in den Himmel." Was redest du da für Zeugs, antworteten sie und wurden ärgerlich. Schließlich kam’s zum Streit.

Und so kommt es, dass Martin Luther neben dem einen Haus seinen Schuppen baute, der inzwischen auch schon ganz schön alt geworden ist. Einen solchen alten „Schuppen“ finden Sie neben dem soeben gesungenen Lied (EG 241). Zugegeben, das ist ganz gewiss kein Schuppen, sondern das sind die Ruinen einer einstmals stattlichen Kirche. Es ist die Jakobikirche in Greifswald, die Caspar David Friedrich um 1815 skizziert hat. Und das Besondere, das Außergewöhnliche an dieser Bleistiftzeichnung ist, dass die Jakobikirche in Greifswald, der alten Hansestadt an der vorpommerschen Ostsee, nie eine Ruine war. Die gotische Backsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert stand zu Caspar David Friedrich Zeit unversehrt und blieb es auch in der Geschichte.

Und so fragst du dich: Was treibt einen Künstler zu einer solchen Darstellung? Sieht er, was andere nicht sehen? Sieht er hinter die Kulissen? War es die morbide Lust an Ruinen? Oder hat der Maler tiefer geblickt und die leeren zerfallenen Wortgehäuse gesehen?
Oder wollte er zeigen: Kirche ist immer bruchstückhaft, nie vollendet? Wie dem auch sei, auch unsere Kirche wird eines Tages
mal so aussehen – oder sieht sie jetzt schon so aus?

Wenn wir genauer hinsehen, sehen wir in dieser Ruine aber drei Aufwachpunkte: Sie ist nach oben offen, nicht zugedeckelt! Und zwei wesentliche Dinge sind noch intakt:Rechts die Kanzel, von der das Wort Gottes verkündigt wird und im tatsächlichen Zentrum des Bildes, auf welches die Perspektive hinläuft, der Christus am Kreuz.

Der Rest ist Archäologie, Museum, Ruine, Zerfall. Das Äußere ist nicht wichtig, wenn nur die Predigt bleibt! Wenn nur Christus im Mittelpunkt bleibt! Wenn nur das Wort Gottes bleibt! Genau das war der Anspruch Luthers vor 503 Jahren und das war auch der Anspruch schon vor 2700 Jahren,als der Prophet Jesaja seinem Volk in Jerusalem predigte.

Damals war nichts als Schutt und Asche! Die Lebensumstände waren miserabel, die Konjunktur lag dar nieder, Armut und Arbeitslosigkeit wuchsen und mitten drin wollten einige, die aus babylonischer Gefangenschaft zurückgekehrt waren, den vergangenen Prachtbau des Tempels aus den Trümmern wiederaufbauen. Alles sollte in ihrer Vorstellung wieder so herrlich werden wie früher. Re-stauration statt Re-formation!

Jesaja erhebt dagegen seine Stimme und schlägt andere Möglichkeiten zur Erneuerung vor. Hören wir, was er im 62. Kapitel seines Buches diesen Restauratoren zuruft (Jesaja 62, 6.7 10–12):
"O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«."

Zwei ebenso schlichte wie verblüffende Antworten auf die ruinösen Zustände der Kirche bietet Jesaja an: 1. Beten und 2. Einladen!

Dieser Prophet erzählt von seinen Schülern – auf Arabisch heißt das „Taliban“ – „die auf der Mau’r als treue Wächter steh’n!“, allerdings auf Mauern die gar nicht existieren. Aber es sind ja auch besondere Wächter: Keine Soldaten mit dem Gewehr in der Hand, keine, die überall Feinde wittern und auf der Lauer liegen, ob da einer mit dem falschen Gesangbuch daherkommt. Diese Prophetenschüler sollen: „Die Tag und Nächte nimmer schweigen!“ Sie sollen, wie Luther das später gesagt hat: „Gott selber mit seinen Verheißungen die Ohren reiben!“ Die sollen beten, beten, beten!

Und das soll nun nicht heißen, die Hände verantwortungslos in den Schoß zu legen. Diese Wächter beten auch nicht um Restauration: „Komm, lieber Gott, mach alles, dass es so wird wie vorher!“, sondern sie haben die Aufgabe, Gott in den Ohren zu liegen, Tag und Nacht – wie die unverschämte Witwe!“ Sie sollen Gott gerade nicht mit ihren eigenen Wehwehchen in den Ohren zu liegen, mit all den Sorgen und Nöten dieser schrumpfenden Kirche, sondern mit Gottes Verheißungen selber. Nicht mit den Trümmern, die sie selber verursacht haben, mit den Fehlern einer erstarrten Volkskirche, sondern mit dem Heil, das Gott selber seinem Volk verheißen hat. „Mit Sorgen und mit Plänen und mit selbsteigner Pein, lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbetet sein!“

Nicht weil Gott ein kleinlicher Despot ist, der sich gern bitten lässt, sondern weil dieses Gebet mit der Erinnerung an Gottes verheißenes Heil, uns dann selber öffnet, verändert, bereit macht für das Wesentliche. Mitten in den Ruinen steckt es schon: „Die Gottesgnad allein steht fest und bleibt in Ewigkeit!“.

Unsere protestantische Gebetskultur hat sich in blasse Formeln, liturgische Versatzstücke unter die Bettdecke verzogen. Was damals die Schüler des Propheten wahrgenommen haben, dieses Wächteramt des Betens, das hat Martin Luther dann mit dem allgemeinen Priestertum aller Glaubenden nochmals verkündet.  Was übrigens keine Steilvorlage ist für Gleichmacherei oder Autoritätsverlust.

Nein, liebe Schwestern und Brüder, dieses Wächteramt ist viel gewaltiger: Jede und jeder – auch du und ich – soll Tag und Nacht Gott in den Ohren liegen, mit ihm im ununterbrochenen Gespräch bleiben, unmittelbar vor Gott leben, ohne Vermittlung von religiösen Spezialisten.

Und dass wir das hören, dass uns das allen auch wirklich ins Herz und zu Herzen geht, soll das Prophetenwort noch einmal laut werden, doch jetzt in einer Übersetzung von Jörg Zink, in der nicht mehr „Jerusalem“, sondern die „Kirche“ angesprochen wird, wenn es jetzt heißt: "Ich habe Wächter aufgestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Ihr sollt Gott erinnern und keine Ruhe lassen, bis er die Kirche aufrichtet, dass die Menschen, die sie sehen, Gott darüber loben. Haltet euch zur Gemeinde. Ebnet anderen den Weh! Räumt Hindernisse weg. Verlasst euch darauf: Gott ist unterwegs zu euch."

Was für eine Überraschung! Überraschend wie im alten Prophetenspruch. Der Vorgänger des dritten Jesaja hat noch „Bereitet dem Herrn den Weg, macht eine ebene Bahn unserem Gott!“ (Jes 40,3). Hier nun tönt es überraschenderweise: „Bereitet den Menschen, bereitet dem Volk den Weg! Ebnet anderen den Weg! Räumt Hindernisse weg!"

Was für eine Überraschung! Die Kirche, als Hort der Hoffnung, ist nicht nur für sich und ihre Getreuen da. Signale für die Völker sollen von ihr ausgehen.  Es ist nicht wahr, dass der Weg der Völker sie nichts anginge und dass deshalb in einer Predigt nichts Politisches vorkommen dürfe.

Es ist politisch, wenn sich die Kirche für Gerechtigkeit in der Welt einsetzt! Und wir alle wissen, wie ungleich die Güter dieser Welt verteilt sind! Und die Kirche, setzt doch ein deutliches politisches Signal mit dem nur durch Spenden finanzierten Seenotrettungsschiff, das im August 2020 zu seiner ersten Rettungsmission ins Mittelmeer auslief. In den vergangenen Monaten wurde politisch alles darangesetzt, die Rettung von Menschenleben zu verhindern und die zivile Seenotrettung zu kriminalisieren. Da darf Kirche nicht tatenlos zusehen. Vielmehr erinnert die EKD mit ihrem Handeln an Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit, an Solidarität mit Menschen in Not.

Das eigentliche Signal der Initiative ist doch: Aufmerksam zu machen auf die Situation im Mittelmeer, das anhaltende Sterben tausender Menschen, die weitgehend tatenlose Politik, die auf europäischer Ebene immer noch keinen Verteilmechanismus finden konnte und auf die vielen Städte und Kommunen, die sich bereiterklärt haben, Bootsflüchtlinge aufzunehmen.
Wir Christen, die Kirche, können deutliche Signale hissen, wenn wir die kirchlichen Hilfsorganisationen noch viel spürbarer als bisher unterstützen, zur fühlbaren Erleichterung unseres Geldbeutels. Lasst uns nicht nur leere Sprüche machen! Wie sagt Luther: „Was man Christus spart, wird man zehnfältig dem Teufel zutragen.“

Ein anderes Signal für die Völker ist der Einsatz für die Verständigung und das Vertrauen zwischen den Völkern. Nein! Nicht die Pandemie wird zur Existenzfrage der Menschheit! Die Pandemie, die uns derzeit so fest in ihrem Würgegriff hat und in der sich so Viele im privaten, sozialen und medizinischen Bereich für die Kranken, Alten, Einsamen und Sterben einsetzen und ihre eigene Gesundheit dabei aufs Spiel setzen. All diesen selbstlos Dienenden von ganzem Herzen: Danke!  

Dank allen, die in dieser Kirche entschlossen alles abwehren, was Ängste und Misstrauen in unserem Land und in der Völkerwelt vermehrt. „Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine weg!“, dass die Kirche als Hort der Hoffnung Mittler des Vertrauens wird. Und mit ist wohlbewusst, dass die Kirchen zuerst einmal selbst zu einem Konsens und zur Versöhnung kommen müssen. „Siehe, der Herr lässt sich hören bis an der Welt Ende: „Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt“. Nur deshalb, liebe Glaubensgeschwister, haben unsere Gebete Sinn. Nur darum ist unser Hissen von Signalen nicht umsonst.

Die Kirche ist moralisch und taktisch nicht besser als alle menschlichen Organisationen. Aber nicht ihre Fehler, nicht ihre Gedankenlosigkeit, nicht ihre Schuldenlast bestimmen ihre Zukunft, sondern der heilige, gültige, heilende Freispruch ihres Herrn, seine Barmherzigkeit, die sie erneuert, seine rettende Liebe, die sie von den Zwängen löst, als „Erlöste des Herrn“.

Weil die Kirche selbst nur von versöhnender, vergebender Liebe lebt, darum hat sie auch nichts anderes an die Welt weiterzugeben als dieses Lebensrezept Jesu Christi. Genau dies soll sie auszeichnen: Sie ist Bote der Versöhnung und soll dies immer besser werden, weil sie doch selbst von Versöhnung lebt. Und weil die Welt mehr und mehr merkt, dass sie sich mit Vergeltung, mit Drohungen, mit Gewalttaten nur in die Katastrophe hineinreißt, darum braucht sie gar nichts nötiger als diese Botschaft. Darum wird die Kirche als Hort der Hoffnung, als Mittlerin des Vertrauens und als Botin der Versöhnung immer unentbehrlicher. Und ich denke jetzt noch an die, deren einzige Parole „no future“ lautet.

Auch Jesus hat man die Zukunft abgeschnitten und an den Galgen gebracht. Aber er hat uns gezeigt, dass dies nicht Endstation ist. Er brach aus – durch Gottes Macht und Gnade! – heraus aus dem zukunftslosen Todeskessel. Er schafft Zukunft dem Menschen, der keine Zukunft mehr sieht. Wenn Jesus Christus nicht lebte, wären wir heute nicht hier. Und das erinnert auf sehr aktuelle Weise an den Sommer 1527, als Wittenberg mit der Pest vom Massensterben bedroht wurde. Die Universität war ausgelagert.
Professoren und Studenten verließen die Stadt. No future?

Da schreibt Luther an einen Freund: „Ich bleibe. Das ist nötig wegen des Ungeheuers von Furcht, das unter den Leuten umgeht. Wenn Bugenhagen und ich hier allein sind: Christus ist auch noch da. Wir sind nicht alleingelassen. Er bleibt bei der kleinen, armen Herde.“ Nur weil Gott – wie im Bild von Caspar David Friedrich – als der Gekreuzigte inmitten seiner Gemeinde bleibt, kann sich in unserem Leben und unserer Kirche etwas verändern. Ohne Frage: Wir haben uns – gemäß unseren Gaben und Kräften – zu bemühen, aber noch einmal Martin Luther: „Wir sind es doch nicht, die da könnten die Kirche erhalten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch, wird’s sein, der da spricht: Ich bin bei euch bis an der Welt Ende".

„Mit unserer Macht ist nichts getan. Wir sind gar bald verloren. Es streit' für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren“.
Amen.

Pfr. i. R. Wolfgang Fingerle

 

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